Eine Gruppe von Schneeschuhwanderern läuft über eine kleine, verschneite Holzbrücke.

Via Silenzi.

Auf dem Pfad der Stille mit Chantal Lörtscher.

«Patgific» bedeutet gemütlich und ist die Bündner Art, das Leben zu entschleunigen. Die mehrtägige Schneeschuhtour Via Silenzi, die von Scuol zum Ofenpass führt, trifft genau dieses Lebensgefühl. Die Tour ist ein Abenteuer auf naturnahen Pfaden vom Unterengadin ins Val Müstair. Dorthin, wo absolute Stille herrscht.

DER ARVENWALD GOD DA TAMANGUR.

In seiner ganzen Pracht liegt er vor einem. Es verschlägt einem regelrecht die Sprache, wenn man ihn zum ersten Mal sieht. Der Arvenwald God da Tamangur ist genauso geheimnisvoll und eindrücklich wie sein Name. Im höchstgelegenen zusammenhängenden Arvenwald Europas kann sich die Natur völlig frei entwickeln. Bäume werden keine gefällt und abgestorbene werden liegen gelassen. Ein traumhaftes Ziel für Schneeschuhwandernde, gleichzeitig hat der Wald für Einheimische eine grosse Symbolkraft. Der God da Tamangur steht für Stärke, Hartnäckigkeit und Überlebenswillen.

Demütig wandern Chantal Lörtscher und ihre Teilnehmenden durch die knorrigen, zerzausten Bäume. Einige Bäume trotzen Wind und Wetter sowie extremen Temperaturschwankungen seit beinahe 800 Jahren. Die kleine Gruppe saugt den Zauber des Waldes auf 2300 Metern über Meer auf, bevor sich die Landschaft öffnet.

Nach der Alp Astras geht es durch eine Landschaft, in der nichts zu sehen ist, das von Menschenhand gemacht ist: eine Art Winterwüste. Die Gruppe läuft seit Stunden gleichmässig. Sie hat ihren Rhythmus gefunden. «Das Knirschen unter den Schneeschuhen, das gleichmässige Gehen, das hat etwas Meditatives», erzählt Chantal Lörtscher. Die Schneeschuhlaufenden stapfen leicht bergauf bis zum Pass da Costainas, dem höchstgelegenen Punkt des Tages.

Chantal Lörtscher ist eine erfahrene Wander- und Schneeschuhleiterin. Sie kennt die Via Silenzi wie ihre eigene Hosentasche. Dutzende Male hat sie die unberührte Winterlandschaft durchwandert und jedes Mal entdeckt sie Neues.
Chantal Lörtscher.

DAS ABENTEUER BEGANN MIT ZWEI PFERDESTÄRKEN.

Die mehrtägige Schneeschuhtour hat tags zuvor begonnen. Gemächlich ging es auf Kufen per Pferdeschlitten von Scuol nach S-charl. Das Dorf steckte tief im Winterschlaf. Während den ersten Wintermonaten erreicht den Ort kein einziger Sonnenstrahl. Erst am 6. oder 7. Februar dringen die ersten Strahlen in den Speisesaal des Gasthauses Mayor. Das erzählt Dominique Mayor, der das Gasthaus führt. Er ist einer von zwei Menschen, die das ganze Jahr in S-charl wohnen und immer für Gäste da sind. Einsam fühle er sich nie, ganz selten sei er allein:

Chantal Lörtschers Gruppe hat im Mayor die erste Nacht verbracht. Früh steht sie am nächsten Morgen am Dorfrand und führt mit ihren Teilnehmenden den Lawinen-Verschütteten-Suchgerät-Check (LVS) durch. Ein LVS gehört nebst Schaufel und Sonde in jeden Rucksack. Das ist Chantal Lörtscher wichtig. Sie plant jede Tour minutiös und klärt die Schnee- und Lawinensituation genaustens ab. Je nachdem legt sie die Route anders.

DER ALLTAG IST WEIT WEG.

Lässt man S-charl hinter sich, ist man weg. Weg von allem. Weg vom Alltag. Da sind nur noch die Geräusche der Schneeschuhe, der glitzernde Schnee, ein vereistes Bächlein namens Clemgia. Die wilde Natur hat das Steuer übernommen. Und Chantal Lörtscher lässt ihr viel Raum. Sie und ihre Gruppe sind achtsam, in sich gekehrt. Eins mit der Bergwelt im funkelden Winterkleid. Vom Pass da Costainas geht es bergab in die kleine Ortschaft Lü. Jetzt sind wir im idyllischen und abgelegenen Val Müstair. Lü bedeutet Licht. Und weil es in der Nacht davon so wenig gibt – Lü gilt als einer der Orte mit der tiefsten Lichtverschmutzung weltweit – scheinen die Sterne zum Greifen nah.

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DAS SCHAULAUFEN DER WILDTIERE.

Die zweite Übernachtung ist im lieblichen Sta Maria im B&B Alpina. Der nächste Tag steht ganz im Zeichen der Wildtiere. Doch bevor es so weit ist, müssen noch einige Höhenmeter überwunden werden. Mit den ersten Sonnenstrahlen geht es raus in die unberührte Winterlandschaft, vorbei an der bewirteten Alp Champatsch hoch zum Fuorcla Funtana da S-charl. Ein wenig später, im Gebiet oberhalb Plaun dals Bovs, packt Chantal Lörtscher Feldstecher und Fernrohr aus. Es dauert nicht lange, bis in der Felswand Gämsen und Steinböcke zu sehen sind. Sie scharren nach Essbarem oder wärmen sich an der Sonne. Chantal Lörtschers Gruppe bestaunt die Tiere durch das Fernglas. Die Wildtiere auf keinen Fall stören, die Wildschutzzonen respektieren, das ist ihr ein grosses Anliegen. Plötzlich entdeckt sie grosse Spuren im Neuschnee: "Das sind frische Spuren von einem Wolf. Er muss gestern Nacht hier gewesen sein."

Er soll nicht das einzige seltene Wildtier bleiben an diesem Tag. Auf einmal kreisen Bartgeier über den Köpfen der Schneeschuhgruppe. Das Schaulaufen der Wildtiere nimmt kein Ende. Der Tag irgendwann schon – im gemütlichen Hotel Süsom Give auf dem Ofenpass. Und irgendwann nimmt auch die Via Silenzi ein Ende. Obschon man die Tour auf vier Tage ausdehnen kann. Was bleibt, ist die Stille. Das wird einem spätestens bewusst, wenn man wieder im Zug zurück in den Alltag sitzt und gleich das nächste Erlebnis im «Patgific-Kanton» planen möchte. Die unendliche Stille ist ein Gefühl, an das man sich in der Zivilisation gerne zurückerinnert und sich dadurch erden kann.

Weitere Informationen finden Sie auf myswitzerland.com/viasilenzi.

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